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Ursachen für niedrige Durchimpfung ermittelt

Bild: Pixabay / Angelo Esslinger

Eine mangelnde Durchimpfung kann Ausbrüche gefährlicher impfpräventabler Krankheiten zur Folge haben. Ein neues Dokument des WHO-Regionalbüros für Europa enthält ausführliche Empfehlungen für die Bestimmung der Gründe, warum manche Menschen nicht geimpft werden, sowie für den zielgenauen Zuschnitt von Maßnahmen zur Beseitigung der bestehenden Hindernisse. Die Zielsetzung besteht darin, allen einen gleichberechtigten Zugang zum Schutz ihrer Gesundheit durch Impfungen zu verschaffen.

Kirgisistan verzeichnet trotz einer insgesamt hohen Durchimpfung schon über 2000 Masernfälle in diesem Jahr. Dieses Paradoxon lässt sich in vielen Ländern beobachten: wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen eine niedrige Durchimpfung aufweisen, sind sie verstärkt anfällig für die Ausbreitung von Masern, sobald das Virus in ihrer Gemeinschaft auftritt.

„Die Situation in Kirgisistan bestätigt, dass hohe landesweite Impfraten allein nicht ausreichen“, erklärt Katrine Bach Habersaat vom WHO-Regionalbüro für Europa. „Man muss auch auf die Bevölkerungsgruppen mit einer niedrigen Durchimpfung achten und ihre spezifischen Barrieren für die Inanspruchnahme von Impfangeboten verstehen und beseitigen. In Kirgisistan betrifft dies vor allem Menschen, die von ländlichen in städtische Gebiete ziehen, um ihre Beschäftigungs- und Einkommenssituation zu verbessern.“

In Kirgisistan konnten die Gesundheitsbehörden dank des Ansatzes der WHO zur zielgenauen Ausrichtung von Impfprogrammen (TIP) eine der Grundursachen des Ausbruchs – eine bisher übersehene gesetzliche Schranke für Menschen, die auf der Suche nach Arbeit von ländlichen in städtische Gebiete umziehen – identifizieren und angemessene Maßnahmen zur Impfung derjenigen ergreifen, die dies am meisten benötigen.

Überarbeitete Empfehlungen

Der TIP-Ansatz wurde vom Regionalbüro für Europa als ein Konzept entwickelt, das der Bestimmung von unzureichend geimpften Bevölkerungsgruppen dient und die Hindernisse erforschen soll, vor denen diese in Bezug auf Impfungen stehen. Solche Hindernisse können sich aus einer Vielzahl von Einflussfaktoren ergeben, etwa der mangelnden Fähigkeit von Gesundheitsfachkräften, die benötigte Unterstützung zu leisten, oder einem unangemessenen Leistungsangebot, einem fehlenden Vertrauen in die Gesundheitsbehörden oder fehlenden Gesetzen, wie im Falle Kirgisistans. Schließlich lassen sich Maßnahmen zur Erhöhung der Durchimpfung entwickeln, in die Erkenntnisse aus der Forschungsphase einfließen können.

Vor kurzem wurde eine neue überarbeitete Fassung des TIP-Leitfadens veröffentlicht. Sie basiert auf Lehren aus der Umsetzung in mehreren Ländern seit 2013 sowie auf einer gründlichen Überprüfung des TIP-Ansatzes durch ein globales Expertenteam.

Im Mittelpunkt des TIP-Ansatzes stehen:
  • zentrale Werte und Grundsätze, wie die Einbeziehung der maßgeblichen Akteure und bürgergerechte Denkansätze;
  • ein theoretisches (auf behavioristischen Erkenntnissen basierendes) Modell; und
  • ein gradueller Prozess mit klaren Leitlinien für die umsetzenden Instanzen in den Ländern.
  • Frau Habersaat erläutert die konkreten Vorteile dieser Methode: „Aufgrund des Verständnisses von Hindernissen und Verhaltensweisen können wir Interventionen zur Erhöhung der Durchimpfung entwickeln, die an den tatsächlich vorhandenen Problemen der Menschen ansetzen. Dies kann sich ungeheuer positiv auf die Gesundheit auswirken, vor allem für Menschen, die marginalisiert sind oder den Gesundheitsbehörden aus irgendeinem Grund misstrauisch gegenüberstehen.“

Beispiele aus den Ländern

Der TIP-Ansatz erweist sich für die Gesundheitssysteme in der Europäischen Region der WHO schon heute als konkret nützlich. So gibt es insgesamt 13 TIP-Projekte für eine Vielzahl von Zielgruppen, darunter anfällige Gemeinschaften, impfskeptische Eltern und Gesundheitspersonal.

Im Falle Kirgisistans ergab eine im Rahmen eines TIP-Projektes durchgeführte Überprüfung der Gesetzgebung, dass das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Impfung durch andere Gesetze beeinträchtigt war, nach denen Binnenmigranten sich erst nach Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung am neuen Wohnort bei einer Gesundheitseinrichtung registrieren lassen konnten. Solche Genehmigungen waren aber für die anfälligsten unter den Binnenmigranten nicht immer leicht zu bekommen. Um dieses Problem zu beheben, wurde in einem neuen ministeriellen Erlass klargestellt, dass Migranten von ländlichen in städtische Gebiete unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus ein Recht auf Impfung haben. Darüber hinaus wird auch das Personal von Gesundheitseinrichtungen dafür geschult, sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wird.

Dieser Ansatz ist nicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen innerhalb der Gesellschaft beschränkt. In Armenien zielte ein TIP-Projekt speziell auf Fachärzte ab, und die dazu durchgeführte Studie mündete in der Entwicklung einer auf Gesundheitsfachkräfte abzielenden Strategie zur Erhöhung der Impfnachfrage mit insgesamt sieben gezielten Interventionen. Inzwischen wurden Ressourcen für die Erprobung einiger dieser Aktivitäten mobilisiert, u. a. für Überzeugungsarbeit und Einbindungsmaßnahmen für bzw. zusammen mit Gesundheitsfachkräften.

In der Föderation Bosnien und Herzegowina, wo die Durchimpfung niedrig ist, wurden drei umfassende TIP-Studien durchgeführt. Gegenwärtig ist eine Strategie zur Erhöhung der Impfnachfrage in Entwicklung, die anhand der gewonnenen behavioristischen Erkenntnisse für eine Umsetzung in die Praxis und für Investitionen wirbt; darüber hinaus werden eine Reihe von Interventionen erprobt oder sind in Planung. Im nächsten Jahr wird mit Unterstützung durch die WHO ein neues Terminerinnerungssystem erprobt und evaluiert.

Ausweitung der Nutzung und Anwendungen des TIP-Ansatzes

Zum Aufbau von Kompetenz für die Umsetzung des TIP-Ansatzes in den Mitgliedstaaten organisiert das WHO-Regionalbüro für Europa jährlich ein Sommerseminar über verhaltensbezogene Erkenntnisse mit Schwerpunkt auf Impfungen. Dieses wurde in Zusammenarbeit mit der Universität Erfurt entwickelt. Eine Evaluation dieser Veranstaltung ergab, dass die Teilnehmer nicht nur ihr Wissen und ihre Fähigkeiten verbessern, sondern das Gelernte auch später in ihren Ländern anwenden konnten.

Der TIP-Ansatz findet auch in anderen Teilen der Welt Interesse und wurde bereits in so unterschiedlichen Ländern wie Australien und Mauretanien angewandt. Im Oktober 2019 unterstützte das WHO-Regionalbüro für Europa die Australische Kooperation für Gesellschaftswissenschaften und Impfwesen bei der Durchführung des Sommerseminars über verhaltensbezogene Erkenntnisse, das für Teilnehmer aus Australien und anderen Ländern der WHO-Region Westlicher Pazifikraum angeboten wurde. Darüber hinaus wird der Leitfaden für das TIP gegenwärtig von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation ins Spanische übersetzt, und für 2020 sind Pilotprojekte in zwei südamerikanischen Ländern vorgesehen.

Aufgrund der innerhalb des Regionalbüros für Europa vorgenommenen Anpassungen wurde das Konzept TIP inzwischen über das Impfwesen hinaus auf den Bereich antimikrobielle Resistenz ausgeweitet, und sein grundlegender Ansatz lässt sich auf eine Vielzahl anderer Gesundheitsprogramme anwenden.

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