Gemeinsam gegen verantwortungslose Gesundheitspolitik
"Wir werfen insbesondere Jens Spahn vor, sich mit immer neuen und vor allem unnötigen Gesetzen in den ärztlichen Alltag einzumischen. Die Kollegen an der Basis sind davon zunehmend genervt, manche geben ihre kassenärztliche Tätigkeit auf. Das ist bei unserem Jahreskongress in Berlin deutlich geworden", so Dietrich. Beim Kongress habe es neben viel Kritik an der Gesundheitspolitik auch Ratschläge von renommierten Fachleuten gegeben, wie die Ärzte in Zeiten von zunehmender Bürokratie und Planwirtschaft sowie dem Zwang, ihre Praxen an die Telematik-Infrastruktur (TI) anzuschließen, agieren sollten. "Das zeigt uns, dass wir mit unseren Bedenken nicht allein dastehen", sagte Dietrich. Der Politik empfiehlt der FÄ-Chef, sich sowohl mit den Einwänden von Juristen in Sachen Freiberuflichkeit als auch mit denen von Datenschutzexperten hinsichtlich der TI und der Digitalisierung zu beschäftigen und Kurskorrekturen vorzunehmen. "Anderenfalls werden immer mehr Vertragsärzte resignieren und aus dem System aussteigen."
Kritik an unsicherer Zwangsvernetzung aller Daten im Gesundheitswesen
Dr. Silke Lüder, Vizevorsitzende der Freien Ärzteschaft, betonte bei der Veranstaltung, "dass wir uns weder der Digitalisierung noch der technischen Entwicklung verweigern." Aber: "Wir Ärzte kritisieren eine unsichere Zwangsvernetzung aller Daten im deutschen Gesundheitswesen, welche die Potenz hat, die ärztliche Schweigepflicht aufzuheben." Umso dramatischer sei, dass die Digitalpolitik aus dem Berliner Ministerium in großen Schritten genau in diese Richtung vorwärts rollt. Ein Beleg ist Spahns geplantes Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG). Demnach sollen alle gesetzlichen Krankenkassen ab 1. Januar 2021 eine elektronische Patientenakte zur Verfügung stellen müssen. "Allerdings können Patienten in der Einführungsphase keine selektiven Zugriffsrechte vergeben", kritisiert Lüder und erklärt, was das bedeutet: "Haben sie sich einmal für die Akte entschieden, können sie nicht mehr entscheiden, ob beispielsweise auch der Zahnarzt auf den HIV-Test zugreifen kann." Spahn werde mit diesem Vorpreschen zum Totengräber seiner eigenen hochfliegenden Pläne, wenn die Patienten schon in der Einführungsphase das Vertrauen in die zentrale E-Akte verlieren.
Zudem zeige das neue Digitalgesetz, dass es denjenigen, die im deutschen Medizinbetrieb inzwischen viel mehr Einfluss haben als die Ärzte, nicht mehr um eine Lösung der Kommunikation geht, die die "frontline workers" im Gesundheitswesen sinnvoll unterstützt. "Im Gegenteil: Der Referentenwurf für das Digitale-Versorgung-Gesetz liest sich wie eine Veröffentlichung der Bertelsmann-Stiftung, deren Gründerfirmen vor allem mit der ARVATO AG ein maximales eigenes wirtschaftliches Interesse am Erfolg ihrer Digitalpolitik haben", sagte Lüder. Mit dem geplanten Gesetz gibt es ferner einen völligen Paradigmenwechsel in Bezug auf die elektronische Patientenakte. Sie wird nicht mehr - wie bisher laut SGBV § 201 geplant - eine arztgeführte Akte sein, sondern wandert via vielbeworbener Handy-Apps zur Speicherung bei den Krankenkassen.
"Digitalisierung ist die neue Religion"
Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) sind Themen, die auch den Mathematiker und Biometriker Prof. Gerd Antes beschäftigen. Er monierte beim Kongress, dass es für keinen der gängigen Begriffe rund um die Digitalisierung eine stichhaltige Definition gebe, auch nicht für Big Data. Selbst der Bundestag stütze sich in seinen Ausführungen auf lediglich drei Quellen. Antes hält das Erzeugen von immer mehr Daten für kontraproduktiv. Denn je größer der Heuhaufen werde, desto schwieriger gestalte sich die Suche nach der Nadel in eben jenem Heuhaufen. Er warnte vor Qualitätsverlust in der medizinischen Forschung und einer Abschaffung der Wissenschaftlichkeit. Immer häufiger würden Korrelationen mit Kausalität gleichgesetzt und pseudowissenschaftliche Beiträge publiziert. Und: Die nahezu "religiöse Verehrung von Daten" führt laut Antes zu Sprunginnovationen, "allerdings in die falsche Richtung". "Digitalisierung ist die neue Religion", sagte der frühere Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums. Positiv sei, dass immerhin auch die Zahl der Kritiker steige. KI hält Antes nicht per se für schlecht. Er möchte aber dafür sensibilisieren, sich auch mit den negativen Seiten auseinanderzusetzen. Das mache bisher kaum jemand. Dabei gebe es dramatische Beispiele fürs "Schiefgehen", etwa den Absturz zweier Boeing-Flugzeuge, die offenbar auf Softwarefehler zurückzuführen seien. Die Piloten hatten laut Antes nicht die Möglichkeit, das Steuer selbst zu übernehmen.
Martin Tschirsich, IT-Sicherheitsanalyst bei der modzero GmbH, erklärte, dass es grundsätzlich nicht nur um Vertraulichkeit der Daten, sondern immer auch um Integrität, Authentizität und Verfügbarkeit der Daten geht. Es dürfe weder unerkannte Änderungen an Daten geben, noch dürfe unklar sein, woher Daten stammen. Systemausfälle müssten genauso vermieden werden wie unautorisierte Zugriffe. Tschirsich machte dabei deutlich, dass derzeit noch keine realistische und praktikable Verschlüsselungstechnik für langfristig vertrauliche Medizindaten zur Verfügung stehe. Für die neuen E-Akten sei jetzt geplant, dass Versicherte, Ärzte, Kliniken und Krankenkassen alle den gleichen Schlüssel für die E-Akte nutzen. Dieser würde von den Anbietern der Akten und von einem "Treuhänder" verwaltet werden und liege demnach durchaus nicht mehr - wie von der Politik versprochen - nur in der Hand der Versicherten. Der Sicherheitsanalyst hatte die bundesdeutsche Öffentlichkeit beim jüngsten Kongress der Chaos Computer Clubs eindrucksvoll auf die Risiken der glorifizierten elektronischen Patientenakten der Krankenkassen hingewiesen.
Vertrauensvolle Bindung zwischen Arzt und Patient in Gefahr
Das zweite große Thema beim Kongress Freier Ärzte drehte sich um Planwirtschaft, Konzernmedizin und ärztliche Freiberuflichkeit. Gesundheitsminister Spahn bedrohe "ideell und strukturell die für unseren Beruf und unser ärztliches Tun notwendige Freiheit", sagte FÄ-Chef Dietrich. Verbandsvize Dr. Axel Brunngraber betonte, dass die vertrauensvolle Bindung zwischen Ärzten und ihren Patienten mehr und mehr aufgelöst werde. "Arztverschwiegenheit und Loyalität gegenüber den Patienten sind jedoch Grundmerkmale des freien Arztberufes", erläuterte der Internist aus Hannover. Er kritisierte zudem den in der Gesundheitspolitik häufig verwendeten Begriff "Patientenversorgung", das sei ein Kampfbegriff. "Wir Ärzte betreuen und behandeln Patienten, wir versorgen sie nicht."
Berlins Ärztekammerpräsident Dr. Günther Jonitz monierte in seinem übermittelten Grußwort die Gesetzesflut aus dem Bundesgesundheitsministerium. Sie zeige, dass von der Gesundheitspolitik auf absehbare Zeit "keine Zunahme an Klugheit oder Zuhören zu erwarten ist". Jonitz schlägt vor, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, um die Patientenversorgung insgesamt zu optimieren. Nur dann "werden wir in der Lage sein, eine gute Medizin unter vernünftigen Bedingungen zu praktizieren."
Rechtswissenschaftler Professor Helge Sodan rät der Ärzteschaft, sich in Parteien zu engagieren. "Werden Sie politischer", sagte er. Sodan monierte, dass sich der Staat in ureigene Gegebenheiten der Arztpraxen einmische. "Dort hat er nichts zu suchen." Und: "Es ist klares Ziel der Politik, Medizinische Versorgungszentren zu stärken." Deren Expansion, immer mehr Bürokratie und Planwirtschaft gefährdeten die ärztliche Freiberuflichkeit, so Sodan. Die Forderung der einstigen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt aus dem Jahr 2003, "endlich Schluss (zu) machen mit der Ideologie der Freiberuflichkeit", habe sich zwar noch nicht erfüllt. Für Sodan liegt jedoch nahe, "dass das in ungebremstem Tempo so weitergeht."
Unterdessen hält der Soziologe Werner Vogd Jens Spahn für einen "hochintelligenten Populisten", den man mit seinen eigenen Waffen schlagen müsse. Der Professor von der Universität Witten/Herdecke sagte, Spahn agiere im Sinne der Systemtheorie geschickt. Er wisse, das Gesundheitswesen sei nicht in den Griff zu bekommen. Von daher sei es egal, welche Maßnahmen von wem ergriffen würden. Spahn komme laut Vogd zugute, dass die Medien sein Tun begleiten und er regelmäßig in den Schlagzeilen sei. Und: Wenn er zurückrudere, geschehe das weitgehend unbemerkt. Der Ärzteschaft riet er, den Blick zu weiten und sich nicht allein auf finanzielle Unwägbarkeiten zu konzentrieren.
Der nächste Kongress Freier Ärzte findet voraussichtlich im Juni 2020 in Berlin statt. Bereits am kommenden Donnerstag lädt die Freie Ärzteschaft zusammen mit Medi Geno Deutschland und dem Freien Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ) in das Haus der Bundespressekonferenz (BPK) nach Berlin ein. Die Pressekonferenz "Patientendaten in Gefahr - Ärzte klagen gegen Spahns Vernetzungstechnologie" findet um 11 Uhr im Tagungszentrum der BPK, Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin, statt.