COVID-19: eine schmerzliche Erinnerung an die Bedeutung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung
Diese Maßnahmen waren Ausdruck einer weit verbreiteten Anerkennung der Notwendigkeit, in einer Pandemiesituation allen Menschen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verschaffen und sie vor Zahlungen aus eigener Tasche zu schützen. Am Welttag der allgemeinen Gesundheitsversorgung, dem 12. Dezember 2020, veröffentlicht die WHO neue Analysen, die die Bedeutung einer dauerhaften Ausweitung dieses Grundsatzes auf alle benötigten Gesundheitsleistungen unterstreichen.
Finanzielle Absicherung und die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG)
In einem neuen Faktenblatt wird erläutert, wie das Versäumnis, weit verbreitete Defizite in der Gesundheitsversorgung zu beheben, schon vor der Pandemie die Fähigkeit der Länder und damit der Europäischen Region zur Erfüllung der Zielvorgaben für die Armutsbekämpfung (SDG 1.1) und den Abbau von Einkommensungleichheit (SDG 10.1) sowie die allmähliche Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung (SDG 3.8) gefährdete.
Aufgrund von COVID-19 und seinen ökonomischen Folgen wirken sich nun zwei Defizite bei der Anspruchsberechtigung noch stärker aus.
Erstens haben Länder, in denen der Anspruch auf eine staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung an die Zahlung von Versicherungsbeiträgen (und nicht an den Wohnsitz) geknüpft ist, schon zu den besten Zeiten Schwierigkeiten damit, die gesamte Bevölkerung abzudecken, insbesondere wenn die Schattenwirtschaft eine bedeutende Rolle spielt. Diese Herausforderung verschärft sich noch in einer Wirtschaftskrise, wenn Menschen ihre Arbeit verlieren oder Einkommenseinbußen erleiden und sich dann die Beiträge nicht mehr leisten können.
Die Gewährleistung, dass alle Bürger eines Landes über Versicherungsschutz verfügen, ist eine Voraussetzung für eine allgemeine Gesundheitsversorgung, keine fakultative Zugabe.
Zweitens reicht Versicherungsschutz allein noch nicht aus. Nutzergebühren (Zuzahlungen) für versicherte Leistungen gehören zu den Hauptursachen für finanzielle Härten in den Gesundheitssystemen der Länder der Europäischen Region. Die Länder können Zugangsbarrieren abbauen und finanzielle Härten verringern, indem sie einkommensschwache Haushalte und Menschen mit chronischen Erkrankungen von Zuzahlungen befreien. Eine Neugestaltung der Zuzahlungsregelungen ermöglicht es dem Gesundheitssystem, etwas für die am stärksten schutzbedürftigen Gruppen zu tun.
Zypern reparierte sein Dach, als die Sonne schien
Aus einer neuen Analyse der WHO über die finanzielle Absicherung in Zypern geht hervor, wie Kürzungen im Gesundheitsetat und bei den Leistungsansprüchen nach der globalen Finanzkrise von 2008 einen Anstieg der ungedeckten Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und zahnärztlichen Leistungen sowie eine Verdopplung der Zahl der Haushalte mit ruinösen Gesundheitsausgaben nach sich zogen. Schon vor der Wirtschaftskrise hatte Zypern eines der größten Defizite beim Versorgungsgrad der Bevölkerung, da die Leistungsansprüche an Einkommen und Staatsbürgerschaft geknüpft waren. Diese Lücke wuchs während der Krise von 15% auf 25% der Bevölkerung an, als neue Regeln Leistungsansprüche von der Zahlung von Sozialabgaben abhängig machten.
Zypern hat vor Kurzem eine Neuregelung seiner Erstattungspraxis eingeführt. In dem 2019 neu eingeführten Allgemeinen Gesundheitssystem wurden die Leistungsansprüche an den Wohnsitz geknüpft, sodass nun erstmals alle Personen mit rechtmäßigem Wohnsitz Versicherungsschutz genießen. Gleichzeitig wurden Nutzergebühren reduziert, insbesondere für einkommensschwache Personen. Dank der Beseitigung zahlreicher finanzieller Zugangsbarrieren war Zypern besser für die gesundheitspolitischen und ökonomischen Herausforderungen infolge der Pandemie gerüstet.
Republik Moldau erzielt Fortschritte während der Pandemie
Über 10% der Bevölkerung der Republik Moldau hat keinen Versicherungsschutz, da dieser an die Zahlung von Krankenversicherungsbeiträgen geknüpft ist und die Schattenwirtschaft ein hohes Ausmaß hat. In den letzten zehn Jahren haben Reformen zu einer stärkeren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen geführt, sodass weniger Menschen kostenbedingt auf benötigte Leistungen verzichten, doch der verbesserte Zugang zur Gesundheitsversorgung hat auch die Belastung durch Zahlungen aus eigener Tasche erhöht, etwa in Form hoher Zuzahlungen für ambulant verschriebene Medikamente und informelle Zahlungen in Krankenhäusern. Aus einer neuen Analyse der WHO geht hervor, dass einkommensschwache Haushalte ein besonders hohes Risiko in Bezug auf fehlenden Versicherungsschutz, finanzielle Zugangsbarrieren und ruinöse Gesundheitsausgaben tragen.
Bei der Bekämpfung der Pandemie hat die Republik Moldau finanzielle Reserven dazu genutzt, eine kostenlose Behandlung im Krankenhaus für alle unabhängig vom Versicherungsstatus sicherzustellen. Nun, da die längerfristigen wirtschaftlichen Verwerfungen aufgrund der COVID-19-Pandemie immer deutlicher zutage treten, könnte diese kurzfristig angelegte Maßnahme auf Dauer eingeführt werden. Durch Entkopplung aller Gesundheitsleistungen – nicht nur im Krankenhaus – von der Zahlung von Beiträgen würde verhindert, dass Menschen den Versicherungsschutz verlieren, wenn sie ihn am dringendsten benötigen. Die Neuregelung von Zuzahlungen wird auch zum Abbau finanzieller Härten beitragen.
Von der Krisenbewältigung zu anhaltenden Fortschritten hin zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung
Die allgemeine Gesundheitsversorgung ist eine der drei zentralen Prioritäten des Europäischen Arbeitsprogramms der WHO. „Die COVID-19-Pandemie hat außerordentliche Störungen und Verwüstungen verursacht, aber sie hat uns auch die Bedeutung einer gut zugänglichen und bezahlbaren Gesundheitsversorgung vor Augen geführt. Das Grundrecht auf Gesundheitsversorgung sollte niemandem verwehrt werden“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Das Bekenntnis zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung steht im Mittelpunkt unserer Arbeit beim WHO-Regionalbüro für Europa. Wir müssen Öffentlichkeit und Politik gleichermaßen mobilisieren, damit sie eine Priorität bleibt.“
Für eine dauerhafte Veränderung der Gesundheitssysteme in den Ländern der Europäischen Region bieten sich zwei grundsätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie an: die Entkopplung von Leistungsansprüchen und Beitragszahlungen und die Befreiung von einkommensschwachen Personen und Menschen mit chronischen Erkrankungen von Zuzahlungen. Das Regionalbüro für Europa wird die Bemühungen der Mitgliedstaaten, die allgemeine Gesundheitsversorgung in den Mittelpunkt des Wiederaufbaus nach COVID-19 zu stellen, unterstützen.